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Tichys Einblick / Roland Tichy
2021-06-12 de
Eine schwarze Woche für Deutschland
Das war eine schwarze Woche für Deutschland:
Schändliche Gesetze wurden im Dutzend blitzschnell verabschiedet.
Der Bundestag hat sich von der Nick-Maschine weiterentwickelt und sich selbst, Grundrechte und Souveränität aufgegeben.
Gesetze werden heute hinter geschlossenen Türen verhandelt.
Die Regierung legt vor, die Abgeordneten nicken wichtig und das Plenum nickt ab.
So entstehen Gesetze, die nicht nur dem Land und seinen Bürgern schaden - sondern den Bundestag entwerten.
Hier die wichtigsten Punkte:
Notstand ohne Not
Das Infektionsschutzgesetz war von Anfang an umstritten.
Jetzt ist es ein Gesetz für einen Notstand, den die Regierung erfunden hat, um elementare Grundrechte auszusetzen.
Längst war die Pandemie am Abklingen, selbst die fingierten und manipulierten Zahlen der Bundesregierung liefern ihr keine Rechtfertigung.
Ein Parlament, das seine Aufgabe als Kontrollinstanz wahrnimmt, hätte sich diesen Themen gewidmet:
Warum wurden die Zahl der Corona-Betten willkürlich reduziert und eine drohende Überbelegung, die es nie gab oder künstlich herbeigeführt wurde, als Grund für Notmaßnahmen angeführt?
Aber darum kümmert sich kein Parlament mehr.
Dafür wird Aufbrechen der Wohnung ohne richterlichen Beschluss erlaubt,
weil Oma (unerlaubt) Opa (nur eine Person als Besuch erlaubt) zum Besuch bei den Enkeln begleitet - das bleibt weiter möglich.
Es ist ins Ermessen von Polizeibeamten gesetzt, das zu verfolgen.
Noch werden viele Polizisten vernünftig bleiben.
Aber das Grundgesetz soll den Bürger vor dem Staat schützen.
Dieser Schutz wurde ohne Not in vielen Punkten aufgehoben.
Demonstrieren und sich versammeln?
Nicht in den Monaten vor der Bundestagswahl.
Was ist das Wahlrecht noch wert, wenn nicht geworben werden kann?
Wir erleben jetzt, was es bedeutet, wenn Menschen- und Grundrechte nicht mehr absolut sind, sondern im Belieben der Exekutive stehen.
Dann sind sie keine mehr, sondern Gnadenakte.
Im Bundestag haben FDP, Linke und AfD dagegen gestimmt;
CDU, CSU, SPD und Grüne für die Aussetzung und damit Entsorgung des Grundgesetzes wie einen Becher abgelaufener Yoghurt.
Eine kleine tapfere Handvoll CDU- und SPD-Abgeordneter hat dagegen gestimmt.
Dass man sie als mutig bezeichnen muss, zeigt, dass der Parlamentarismus in Deutschland ausgehöhlt ist.
Abgeordnete entscheiden nicht mehr nach ihrem Gewissen.
Sie müssen ihre Hände heben wie Nick-Maschinen auf Befehl des Fraktionsvorstands.
Wer das nicht tut, wird bestraft.
Das zeigt ein weiterer Fall.
Parlament ohne Haushaltshoheit
Mit den jüngsten Beschlüssen des Bundestags zum EU-Stabilitätsmechanismus verliert dieser sein Königsrecht:
Zu bestimmen darüber, welche Steuern erhoben und wofür die Steuermittel ausgegeben, wofür Schulden aufgenommen werden.
Damit beginnt die Geschichte des Parlamentarismus; denn wer zahlt, schafft an, auch im Staat.
In Zukunft kann die EU praktisch unbegrenzt auf deutsche Steuern zugreifen und beliebig höhere Schulden erzwingen.
Deutschland hat seine finanzpolitische Souveränität aufgegeben.
Detailliert beschreibt der CDU-Abgeordnete Klaus-Peter Willsch diesen Vorgang:
Zukünftig können die Brüsseler EU-Kommission und die Europäische Zentralbank durch ihre Kreditvergabe an andere Staaten darüber bestimmen, welche Lasten auf Deutschland zukommen.
In einer persönlichen Erklärung auf TE beschreibt Willsch den Sachverhalt und was mit Kritikern, wie er es ist, geschieht, denn er hat sich der Kanzlerin schon früher in den Weg gestellt:
"Als Revanche für mein lange vorher angekündigtes und ausführlich begründetes Abstimmungsverhalten verlor ich auf Betreiben der Bundeskanzlerin und der ihr ergebenen Fraktionsführung nach der Bundestagswahl 2013 meinen Sitz im Haushaltsausschuss.
Seitdem tue ich als einfaches Mitglied im Wirtschaftsausschuss meinen Dienst.
Für alle diejenigen, die mich schon länger kennen, ist dies nichts Neues.
Für alle anderen soll dies vorab der Einordnung dienen."
Willsch ist direkt gewählter Abgeordneter.
Solange sein Wahlkreis ihm folgt, muss er nur auf rund ein Drittel seiner Diäten verzichten,
denn damit wird Gefolgschaft durch die Fraktionsführung auf Geheiß der Bundeskanzlerin entlohnt.
Solche Abgeordnete sind daher dem Bundestagspräsidenten Wolfgang Schäuble ein Dorn im Auge.
Er will ihre Zahl verringern und damit die Macht der Regierung noch weiter und die Unabhängigkeit der Parlaments entgültig beschneiden.
Sein Plan sieht vor, die Zahl der Wahlkreise von 299 auf 270 zu verringern, um so zu weniger Direktmandaten zu kommen.
Es ist ein Kampf um die Macht, den der Bundestag längst verloren gegeben und sich folglich als Vollzugsorgan der großen Koalition beschieden hat.
Warum auch nicht?
Das Königsrecht der Budgetgewalt ist ohnehin verloren.
Die letzten Reste der Souveränität werden einkassiert.
Die Schwäche des deutschen Parlamentarismus will jetzt die EU ausnutzen und dem Bundestag und damit dem Deutschen Volk die letzten Reste der Souveränität abnehmen.
Die EU-Kommission hat beschlossen, ein Vertragsverletzungsverfahren gegen Deutschland einzuleiten.
Worum es geht erklärt im Detail der Verfassungsrechtler Dieter Murswiek.
Schon heute hat das Unionsrecht Vorrang vor dem Recht der Mitgliedstaaten, und zwar auch vor den mitgliedsstaatlichen Verfassungen, also dem Grundgesetz.
EU-Recht bricht also das Grundgesetz, das damit keines mehr ist.
Dieser an sich schon ungeheuerliche Vorrang findet seine Grenze aber bislang in der Verfassungsidentität der Mitgliedstaaten:
Das EU-Recht kann keine Geltung in einem Mitgliedstaat beanspruchen, wenn es mit dessen grundlegenden Verfassungsprinzipien unvereinbar ist.
Für Deutschland bedeutet dies, dass das Demokratieprinzip, das Rechtsstaatsprinzip und das Sozialstaatsprinzip, natürlich auch die Menschenwürdegarantie, nicht durch EU-Recht beeinträchtigt werden dürfen.
Deshalb steht dem Bundesverfassungsgericht das Recht zur "Identitätskontrolle" zu.
Dieser Schutz des letzten Kerns unseres Grundgesetzes soll durch den Beschluss der EU-Kommission nun auch noch in Frage gestellt werden, auch dieses Recht soll auf die Müllkippe Brüssels.
Es ist ein ungeheuerlicher Vorgang.
Haben Sie einen Aufschrei gehört aus dem Deutschen Bundestag?
Nein, das hätte nur die hektische Geschäftsmäßigkeit gestört, mit der Regierungsvorgaben in Gesetze umgesetzt werden.
Der total überwachte Bürger
Nun ist Macht immer gefährdet.
Die Bundesregierung hat sich nach vielen anderen Bausteinen einen weiteren vom Bundestag in die Hand legen lassen, um Kritiker zum Schweigen zu bringen.
So wurden ohne lange Diskussion weitere Eingriffsmöglichkeiten in die Privatsphäre im Internet verabschiedet - auch gegen Personen, die keine Straftaten begangen haben.
Dafür sollen Sicherheitslücken bewusst offen gehalten werden und der Staat die Lizenz zum Hacken bekommen.
Der Staat erhält damit weitaus umfangreicher als bisher die Möglichkeit, sich mittels Schadsoftware oder evtl. sogar heimlichem Eindringen in die Wohnung, Zugriff auf private Kommunikation zu verschaffen.
Sicherheitslücken von Kommunikationsprogrammen sollen nicht geschlossen werden, die Internetunternehmen sogar zur Mithilfe bei der Installation von Schadsoftware gezwungen werden.
Auch hier zeigt sich, wie mit Abgeordneten mittlerweile umgegangen wird.
Jahrelang hat die SPD und haben ihre Abgeordneten dagegen Widerstand geleistet.
Gewunden erklärt die Parteivorsitzende Saskia Esken jetzt:
"Ich halte die Entscheidung für den Einsatz von Staatstrojaner'n auch weiterhin für falsch, insbesondere in den Händen von Geheimdiensten.
Diese Form der Überwachung ist ein fundamentaler Eingriff in unsere Freiheitsrechte und dazu ein Sicherheitsrisiko für unsere Wirtschaft. […]
Die @spdbt hat sich mehrheitlich für diesen Weg entschieden und ich respektiere diese Mehrheit."
Die SPD-Fraktion hat zugestimmt.
Was war der Lohn dafür?
Wir kennen ihn nicht.
Schutz ihres Kanzlerkandidaten und Finanzministern vor weiteren Versuchen, sein schäbiges Verhalten in der Cum/Ex-Affäre oder im Umgang mit Wirecard aufzuklären?
Eine Spekulation.
Politische Preise werden in seltsamen Währungen berechnet und gezahlt.
Jedenfalls darf künftig auch ihr Chat mit Freunden, Bekannten, Verwandten überwacht werden.
Wir sind gläserne Bürger geworden.
Unsinn und höhere Steuern am laufenden Band
Der Bundestag hat noch weitere unsinnige Gesetze beschlossen, etwa das Lieferkettengesetz, eine weitere Geldbeschaffungsmaschine für NGOs.
Die Erhöhung der Tabaksteuer auch auf Nikotin-Verdampfungsgeräte; der Staat kassiert, darin sieht er seine vornehmste Aufgabe und der Bürger wird abgezockt, wo immer sich eine schnelle Möglichkeit bietet.
Demnächst sollen die Benzinpreise noch sehr viel weiter erhöht werden.
"Auch mit uns wird Benzin richtig teuer", sagt der CDU/CSU-Fraktionsvorsitzende Brinkhaus.
Wir wissen Bescheid, vielen Dank, es ist ein Wahlkampf gegen die Bürger.
Urlaub statt Verteidigung der Freiheit
Aber darüber kann man sogar hinwegsehen, wenn man will.
Denn längst geht es nicht um dumme, schädliche oder teure Gesetze; davon haben wir viele und sie bislang mit Mühen sogar überlebt.
Jetzt geht es um mehr.
Um die Abschaffung der Souveränität und demokratischen Willensbildung.
Die Bevölkerung wird überschüttet mit Entscheidungen, die in der Schnelle nicht verstanden und schon gar nicht debattiert werden können.
Dieser Bundestag ist nur noch das Erfüllungsorgan der Bundesregierung; und in seiner sklavischen Bereitschaft, es den Regierenden nur ja Recht zu machen, hat er sich selbst überflüssig gemacht.
Zukünftig entscheidet die Bundesregierung darüber, wann sie uns welche schäbigen Reste unserer Menschen- und Grundrechte übrig lässt,
zukünftig entscheiden EU-Bürokraten darüber, wie tief sie uns in die Tasche fassen wollen und was für uns übrigbleibt.
Wir sind Zeugen eines erstaunlichen Vorgangs:
Es ist der Vorgang der parlamentarischen Selbstaufgabe, ganz ohne Zwang, ohne Panzer vor dem Parlament und ohne Soldaten hinter den Abgeordneten.
Die Damen und Herren gehen in die Sommerpause, in Urlaub.
Als wäre nichts gewesen.
Es ist zum schämen.
In eigener Sache.
Freie Medien sind oft an der Grenze der Überforderung.
Auch TE kann kaum schnell und präzise genug reagieren.
Wir alle werden vor vollendete Tatsachen gestellt, die unsere Freiheit und Selbstbestimmung in rasendem Tempo zerstören.
Wir danken allen, die es uns ermöglichen, diesen Kampf zu bestehen.
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Tichys Einblick / Dietrich Murswiek
2021-06-10 de
Brüssel will die totale Unterwerfung der Mitgliedstaaten
EU-VERFAHREN GEGEN DEUTSCHLAND
Mit dem Vertragsverletzungsverfahren gegen Deutschland soll ein Exempel statuiert werden:
Es ist der dreisteste von vielen Akten, mit denen die EU-Zentrale sich die Souveränität aneignen will, die nach den EU-Verträgen bei den Mitgliedstaaten liegt.
Dieser Beschluss ist der neueste und allerdreisteste Akt in einer langen Reihe von Schritten,
mit denen Brüssel seine Macht zulasten der Mitgliedstaaten ausdehnen
und sich schleichend die Souveränität aneignen will,
die nach den EU-Verträgen immer noch bei den Mitgliedstaaten liegt.
Im Grunde genommen geht es um eine Bagatelle:
Das Bundesverfassungsgericht hatte im PSPP-Urteil das Staatsanleihenankaufprogramm für verfassungswidrig und für in Deutschland unanwendbar erklärt,
weil die EZB die Anleihenkäufe nicht daraufhin geprüft habe,
ob sie im Hinblick auf ihre wirtschafts- und sozialpolitischen Auswirkungen zum Beispiel auf die Alterssicherungssysteme oder das Sparvermögen verhältnismäßig sind.
Eigentlich hätte daraufhin die Bundesbank an der Durchführung des Programms nicht mehr mitwirken dürfen,
aber das Bundesverfassungsgericht hatte in seinem Urteil eine dreimonatige Frist gesetzt, innerhalb derer die EZB die bisher nicht ersichtliche Verhältnismäßigkeitsprüfung nachholen und dies in einem Beschluss dokumentieren könne.
Dies ist nach Auffassung der damaligen Kläger nicht geschehen.
Stattdessen hat die EZB eine Stellungnahme beschlossen, in der die Verhältnismäßigkeit der Anleihenkäufe lediglich behauptet, aber nicht substantiiert dargelegt wird, und damit hat das Bundesverfassungsgericht sich im Vollstreckungsverfahren abspeisen lassen und somit davon abgesehen, sein eigenes Urteil durchzusetzen.
Die EZB kann also ihre Staatsanleihenkäufe weiterhin durchführen, ohne vom Bundesverfassungsgericht in irgendeiner Weise daran gehindert zu werden.
Hinsichtlich des zentralen Einwands gegen die Staatsanleihenkäufe - dass es sich um verbotene monetäre Staatsfinanzierung handele - hatte das Bundesverfassungsgericht sich von vornherein zurückgehalten und in seinem Urteil zwar viele Umstände dargelegt, die für einen Verstoß gegen dieses Verbot sprechen, aber die Feststellung eines Verstoßes dennoch abgelehnt, weil dieser nicht hinreichend evident sei.
Man sollte also annehmen können, im Ergebnis habe sich zugunsten der EZB alles in Wohlgefallen aufgelöst.
Warum also jetzt ein Vertragsverletzungsverfahren wegen des PSPP-Urteils, obwohl sich aus diesem doch im praktischen Ergebnis keine Einschränkungen und Hindernisse für die weiterhin die Staaten mit frisch gedrucktem Geld versorgende EZB ergeben?
Die Antwort kann nur sein:
Das Bundesverfassungsgericht hat mit seinem Urteil die EU herausgefordert, indem es - wenn auch ganz vorsichtig und mit einer Konstruktion, die es der EZB leicht machte, praktische Konsequenzen für ihre Anleihenkäufe zu vermeiden - gegen ein in dieser Sache ergangenes Urteil des EuGH aufgemuckt hatte.
Das Urteil des EuGH sei wegen Ausklammerung der tatsächlichen Auswirkungen des PSPP "methodisch unvertretbar".
Der EuGH überschreite mit diesem Urteil seine Kompetenzen, da er die Anforderungen an eine nachvollziehbare Überprüfung des EZB-Programms evident verfehlt habe.
Damit könne der Verhältnismäßigkeitsgrundsatz die im Vertrag vorgesehene Korrekturfunktion für den Schutz mitgliedstaatlicher Zuständigkeiten nicht mehr erfüllen.
Somit sei nicht nur das PSPP-Programm, sondern auch das EuGH-Urteil als Ultra-vires-Akt (kompetenzüberschreitender Akt) in Deutschland nicht anwendbar.
Diese Auflehnung gegen den EuGH, mag sie in ihren praktischen Konsequenzen auch völlig belanglos sein, will die Kommission nicht akzeptieren.
Sie möchte ein Exempel statuieren und die alleinige Zuständigkeit des EuGH zur verbindlichen Auslegung des EU-Rechts sichern.
Nun trifft es zwar zu, dass das europäische Unionsrecht Vorrang vor dem Recht der Mitgliedstaaten hat, und zwar auch vor den mitgliedstaatlichen Verfassungen.
Dieser Vorrang findet seine Grenze aber in der Verfassungsidentität der Mitgliedstaaten:
Das EU-Recht kann keine Geltung in einem Mitgliedstaat beanspruchen, wenn es mit dessen grundlegenden Verfassungsprinzipien unvereinbar ist.
Für Deutschland bedeutet dies,
dass das Demokratieprinzip, das Rechtsstaatsprinzip und das Sozialstaatsprinzip, natürlich auch die Menschenwürdegarantie, nicht durch EU-Recht beeinträchtigt werden dürfen.
Deshalb steht dem Bundesverfassungsgericht das Recht zur "Identitätskontrolle" zu.
Dies wird durch den Beschluss der EU-Kommission, wegen des Urteils des Bundesverfassungsgerichts ein Vertragsverletzungsverfahren einzuleiten, allerdings nicht direkt, sondern nur mittelbar in Frage gestellt.
Der Grund für das Vertragsverletzungsverfahren besteht darin, dass das Bundesverfassungsgericht der EZB und dem EuGH eine Kompetenzüberschreitung - einen Ultra-vires-Akt - vorgeworfen hat.
Die Kommission meint, dies dürfe ein nationales Verfassungsgericht nicht, weil für die letztverbindliche Auslegung des EU-Rechts allein der EuGH zuständig sei.
Damit kulminiert ein Streit, der schon seit Jahrzehnten schwelt, durch das Lissabon-Urteil (2009) angefacht, aber danach von allen Beteiligten mit Vokabeln wie "europafreundlich", "Kooperation" oder "Dialog der Gerichte" klein gehalten wurde.
Es geht darum, wer "das letzte Wort" hat, wenn es um einen Streit darüber geht, ob ein EU-Organ seine Kompetenzen überschritten hat - der EuGH oder das Bundesverfassungsgericht.
Natürlich beansprucht der EuGH dieses letzte Wort, weil er für die Auslegung des EU-Rechts zuständig sei, und im Lissabon-Urteil hat das Bundesverfassungsgericht mit seinem Anspruch, eine "Ultra-vires-Kontrolle" vornehmen zu können, das letzte Wort für sich selbst in Anspruch genommen.
Dass dies rechtlich möglich ist, ergibt sich daraus, dass es einen Vorrang des EU-Rechts nur dort geben kann, wo die EU-Organe innerhalb der Unionsverträge handeln, und dass auch der EuGH Kompetenzen nur innerhalb der Verträge hat.
Wenn der EuGH der EU Kompetenzen zuspricht, die sie nach den Verträgen nicht hat, dann handelt er ultra vires, und dann ist das für die Mitgliedstaaten nicht verbindlich.
Wenn aber die EU und ein Mitgliedstaat beziehungsweise der EuGH und ein nationales Verfassungsgericht gerade darüber streiten, ob die Kompetenzen überschritten worden sind, lässt sich die Frage nach der Zuständigkeitsabgrenzung zwischen EuGH und mitgliedstaatlichen Verfassungsgerichten logisch nicht auflösen.
Geht es um uneindeutige Fälle, in denen es um juristisch schwer zu entscheidende Interpretationsfragen mit wenig weitreichender Bedeutung geht, wird man dem EuGH die Kompetenz zur verbindlichen Konkretisierung der Vertragsinhalte zugestehen müssen.
Wenn - wie das Bundesverfassungsgericht im Lissabon-Urteil formuliert hat - die Kompetenzüberschreitung jedoch klar "ersichtlich" ist, muss ein nationales Verfassungsgericht die Gefolgschaft verweigern dürfen, weil andernfalls die EU das für sich in Anspruch nehmen könnte, was Juristen die Kompetenz-Kompetenz nennen: die Kompetenz, über den Umfang der eigenen Kompetenzen selbst zu bestimmen.
Diese Kompetenz aber steht nach den Verträgen eindeutig den Mitgliedstaaten zu, während die EU-Organe sich nur auf die "begrenzten Einzelermächtigungen" stützen können, die ihnen von den Mitgliedstaaten in den Verträgen übertragen worden sind.
Dieses "Prinzip der begrenzten Einzelermächtigung" wird stillschweigend abgeschafft, wenn die EU-Organe ihre Kompetenzen Schritt für Schritt mit Billigung des EuGH ausdehnen und den Mitgliedstaaten auf diese Weise scheibchenweise ihre Kompetenzen beschneiden.
Einen solchen schleichenden Souveränitätsübergang von den Mitgliedstaaten zur EU wollte das Bundesverfassungsgericht mit dem Lissabon-Urteil verhindern, indem es mit seinem Anspruch auf Ultra-vires-Kontrolle sagte, dass es eindeutige Kompetenzausweitungen der EU-Organe, denen die Mitgliedstaaten nicht zugestimmt haben, verhindern werde.
Das Bundesverfassungsgericht hat im Lissabon-Urteil entschieden, dass der Vertrag von Lissabon nur in der Auslegung, die das Bundesverfassungsgericht ihm in diesem Urteil gegeben hat, mit dem Grundgesetz vereinbar sei.
Wenn nicht dem Bundesverfassungsgericht die Kompetenz zur Identitätskontrolle und zur Ultra-vires-Kontrolle zustünde, hätte der Vertrag von Lissabon nicht ratifiziert werden dürfen, weil das mit dem unabänderlichen Verfassungskern des Grundgesetzes, nämlich mit dem Demokratieprinzip und mit dem Prinzip der souveränen Staatlichkeit, nicht vereinbar gewesen wäre.
Nun will die EU-Kommission mit dem Vertragsverletzungsverfahren das Lissabon-Urteil aus den Angeln heben und die Dominanz der EU über die Mitgliedstaaten besiegeln.
Die Behauptung der Kommission, das PSPP-Urteil des Bundesverfassungsgericht gefährde die Integrität des Unionsrechts und öffne den Weg für ein "Europa à la carte", ist irreführend.
Es geht ja gar nicht darum, dass Verfassungsgerichte der Mitgliedstaaten nach Belieben EuGH-Urteile unbeachtet lassen können, sondern es geht allein darum, dass sie in der Lage sein müssen, der Überwindung des Prinzips der begrenzten Einzelermächtigung durch Brüsseler Selbstermächtigungen entgegenzutreten.
Wenn dem Bundesverfassungsgericht nun die Kompetenz zur Ultra-vires-Kontrolle genommen werden soll, wird damit der absolut geschützte Kern des Grundgesetzes verletzt.
Wer eine solche Lösung will, kann das - so das Bundesverfassungsgericht im Lissabon-Urteil - nicht auf der Basis des Grundgesetzes erreichen.
Die Verlagerung der Kompetenz-Kompetenz auf die EU setzt voraus, dass zuvor aufgrund einer verfassunggebenden Volksabstimmung das Grundgesetz durch eine neue Verfassung ersetzt wird.
Jetzt muss die Bundesregierung
die Auffassung der Kommission mit
aller Entschiedenheit und Eindeutigkeit zurückweisen.
Andernfalls beteiligt sie sich selbst an der schleichenden Abschaffung der nationalstaatlichen Souveränität durch die EU und damit an der schleichenden Abschaffung des Grundgesetzes als der Verfassung eines souveränen Staates.
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Tichys Einblick / Oswald Metzger
2021-06-10 de
EU-Verfahren gegen Deutschland: Brüssel stellt die Machtfrage
Das Vertragsverletzungsverfahren der EU-Kommission gegen Deutschland wird zeigen, ob Deutschland ein souveräner Staat oder EU-Vasall ist.
Das Bundesverfassungsgericht soll nach Brüsseler Wunsch nicht einmal mehr Kompetenzüberschreitungen der EU-Institutionen rügen dürfen.
Der EuGH hatte zuvor auf einen Vorlagebeschluss aus Karlsruhe mit einer Blankovollmacht für die EZB-Anleihekäufe reagiert, dessen Begründung die Karlsruher Richter als "objektiv willkürlich" und "schlechterdings nicht mehr nachvollziehbar" einstuften.
Kommissionspräsidentin Ursula von der Leyen
kündigte unmittelbar nach der Karlsruher Entscheidung an, die EU werde den Vorrang des EuGH durchsetzen.
Auch der EuGH
erklärte sich prompt für allein zuständig.
Und EZB-Präsidentin Christine Lagarde sekundierte,
erklärte sich prompt für allein zuständig.
die EZB werde sich keinem Karlsruher Urteil beugen.
Mit einem guten Jahr Verspätung leitete jetzt die EU-Kommission ein Vertragsverletzungsverfahren gegen Deutschland ein.
Über EU-Recht entscheide allein der EuGH,
nicht ein nationales Verfassungsgericht, so der Vorwurf der EU-Kommission.
Es gebe kein EU-Recht à la carte, weder in Polen und Ungarn, noch in Deutschland.
Reichlich kühn mutet die Brüsseler Argumentation an,
die den polnischen und ungarischen Versuch, ihre Justiz an die politische Kandare zu nehmen, mit dem unabhängigen deutschen Verfassungsgericht in einen Topf wirft, das in einer elementaren Frage der nationalen Verfassungsidentität Europas Selbstermächtigungsanspruch hinterfragt.
Adressat des Mahnschreibens ist die deutsche Bundesregierung, die allerdings keine rechtliche Handhabe hat, Karlsruhe Vorschriften zu machen.
Denn das BVerfG ist unabhängig, es sei denn, eine europafreundliche Zwei-Drittel-Mehrheit im Bundestag würde die Verfassung ändern wollen und die Überprüfung von ausbrechenden Rechtsakten der EU-Institutionen untersagen.
Es blieb ziemlich still in Berlin, als das Brüsseler Vertragsverletzungsverfahren publik wurde.
Nur die Grünen sekundierten postwendend der EU-Kommission, die - so die Grünen - zurecht auf dem Vorrang des EU-Rechts und seiner alleinigen Überprüfung durch den EuGH bestehe.
Soll das BVerfG eingeschüchtert werden, weil weitere Klagen gegen das aktuelle PEPP-Kaufprogramms der EZB anhängig sind?
Der von verschiedenen Klägern erhobene Vorwurf der verbotenen Monetarisierung der Staatsschulden durch das Vorgänger-Kaufprogramm PSPP war in Karlsruhe im vergangenen Jahr gerade "noch zurückgewiesen" worden, weil es für die Kaufvolumina unter anderem Höchstgrenzen vorsah, die sich am EZB-Kapitalschlüssel der emittierenden Staaten orientierten.
Beim PEPP-Programm ist das nicht mehr der Fall, was eigentlich fast zwingend eine Karlsruher Verfassungsrüge auslösen müsste.
Doch die Richter stehen unter enormem Druck, der durch das Brüsseler Vertragsverletzungsverfahren noch verstärkt wird.
Ob sie den Schneid aufbringen, den europäischen Zentralisten noch einmal in den Arm zu fallen?
Wieder stellt sich die alles entscheidende Frage:
Wie souverän sind eigentlich die Mitgliedstaaten der EU noch?
Sind sie Brüsseler Vasallen, also nachgeordnete Gliedstaaten,
oder souveräne Mitgliedstaaten in einem Staatenverbund, der gewisse Aufgaben an die europäische Ebene delegiert hat?
In seinem legendären Lissabon-Urteil,
das Grundlage für die Zustimmung des Bundestags zu den geltenden europäischen Verträgen war,
haben sich die Karlsruher Verfassungsrichter ausdrücklich die sogenannte "Ultra Vires"-Kontrolle vorbehalten.
Damit wollten sie sicherstellen, dass sie ausbrechende Rechtsakte der EU-Institutionen, die mit der letztendlichen Verfassungsidentität Deutschlands kollidieren, überprüfen und rügen können.
Das Demokratieprinzip gehört dazu, ebenso die nationale Budgethoheit.
Dass diese elementaren Verfassungsprinzipien eines souveränen Landes massiv berührt sind, wenn etwa die EZB für Billionen Euro Staatsanleihen aufkauft und damit langfristig auch den deutschen Bundeshaushalt in Mithaftung nimmt, müsste sich eigentlich von selbst verstehen.
Peter Gauweiler, nach dem die letztjährige Gauweiler-Entscheidung des BverfG benannt ist, kommentierte das Vorgehen aus Brüssel gestern so:
"Alle EU-Vertragsstaaten wissen, das Deutschland ohne Beachtung dieses Prinzips dem Lissabon-Vertrag niemals zugestimmt hätte."
Auch ein anderer damaliger Mitkläger, der Ökonom Bernd Lucke, reagierte: "Sie (die EU-Kommission) will durchsetzen, dass auch der schutzwürdigste Identitätskern der nationalen Verfassungen vom EU-Recht überlagert wird.
Damit provoziert die Kommission enorme Konflikte in der EU,
weil sie ihre souveränen Mitgliedstaaten wie nachgeordnete Gliedstaaten behandelt."
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▶Grundgesetze: Vom Kampf der Gerichte zum Kampf um die Souveränität
▶Klimapolitik: Vom Kampf der Gerichte zum Kampf um die Souveränität
Tichys Einblick / Professor Dr. Dietrich Murswiek
2020-05-19 de
Vom Kampf der Gerichte zum Kampf um die Souveränität
ZIEL EU-SUPERSTAAT?
EZB-Chefin Christine Lagarde fordert die Bundesbank auf, sich weiter an den Anleihekäufen zu beteiligen - auch wenn das Bundesverfassungsgericht darin einen Verstoß gegen das Grundgesetz feststellt.
Der Konflikt zwischen EU und deutschem Recht spitzt sich zu.
Verfassungsrechtler Dietrich Murswiek über die Grundlagen.
Das Urteil des Bundesverfassungsgerichts
vom 5. Mai zum Staatsanleihenankaufprogramm der Europäischen Zentralbank (EZB), dem Public Sector Purchase Programme (PSPP),
hat zu einem empörten Aufschrei von Europarechtlern, Politikern und Journalisten geführt.
Seit Jahren hat es keine so heftige Kritik an einer Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts gegeben.
Im Spiegel wird das Urteil als "Attentat auf Europa" angeprangert.
In der Süddeutschen Zeitung stuft Heribert Prantl die Karlsruher Richter als "Staatsgefährder" ein, nämlich als Gefährder des seiner Meinung nach bestehenden Staates namens EU.
Ein Europaabgeordneter der CSU meint, das Bundesverfassungsgericht habe "eine rote Linie überschritten".
Und eifrige Stimmen aus der deutschen Rechtswissenschaft, Politik und Publizistik rufen die EU-Kommission auf, wegen des Urteils ein Vertragsverletzungsverfahren gegen Deutschland anzustrengen.
Genau dies prüft jetzt die Kommission,
deren Präsidentin Ursula von der Leyen geäußert hat, das Urteil berühre den "Kern der europäischen Souveränität".
Was ist der Grund der Empörungswelle, die dem Bundesverfassungsgericht entgegenschlägt?
Er kann nicht daran liegen, dass das Bundesverfassungsgericht festgestellt hat, die EZB habe es unterlassen, bei ihren Beschlüssen über das PSPP die negativen Folgewirkungen der Staatsanleihenkäufe zu berücksichtigen und sie gegen die angestrebten positiven Effekte des Programms abzuwägen.
Mit dieser Feststellung und mit der Anordnung, die Bundesbank dürfe an der Durchführung der Anleihenkäufe nicht mehr mitwirken, wenn die EZB nicht innerhalb von drei Monaten die Verhältnismäßigkeitsprüfung nachgeholt habe und das Ergebnis das Programm rechtfertige, wird die EZB in ihrer Tätigkeit nur marginal berührt.
Denn wenn sie die Verhältnismäßigkeitsprüfung durchführt und zum Ergebnis kommt, die Staatsanleihenkäufe seien in Relation zu den Milliardeneinbußen der Sparer, zu den ruinösen Beschädigungen der Alterssicherungssysteme und zu den vielfältigen übrigen Kollateralschäden nicht unverhältnismäßig, wird das Bundesverfassungsgericht dies wohl akzeptieren, wenn die Kosten-Nutzen-Analyse nicht evident eine Fake-Konstruktion ist.
Denn nicht nur der Europäische Gerichtshof (EuGH), sondern auch das Bundesverfassungsgericht räumen der EZB bei ökonomischen Einschätzungen einen sehr großen Einschätzungsspielraum ein.
Warum also die Aufregung der EU-Enthusiasten?
Ganz einfach deshalb, weil das Bundesverfassungsgericht sich erdreistet hat, der EZB vorzuwerfen, rechtswidrig gehandelt zu haben, und weil es Bundesregierung und Bundestag dazu aufgefordert hat, gegen die Kompetenzüberschreitung der EZB vorzugehen.
Und vor allem deshalb, weil das Bundesverfassungsgericht so entschieden hat, obwohl zuvor der EuGH geurteilt hatte, die EZB habe rechtmäßig gehandelt.
Jetzt werfen die Kritiker dem Bundesverfassungsgericht vor, es verletze erstens die Unabhängigkeit der EZB und der Bundesbank und es missachte zweitens den Vorrang des EU-Rechts sowie drittens die Letztentscheidungskompetenz des EuGH.
Der erste Vorwurf ist schnell erledigt:
Dem Lamento, das Bundesverfassungsgericht habe die Unabhängigkeit der EZB verletzt, liegt ein Missverständnis dieser Unabhängigkeit zugrunde, wie es größer nicht sein könnte. Die Unabhängigkeit der EZB ist zwar rechtlich garantiert, aber sie besteht selbstverständlich nur im Rahmen der Kompetenzen, die die EU-Verträge der EZB zuweisen.
Überschreitet die EZB ihr geldpolitisches Mandat und betreibt Wirtschafts- oder Fiskalpolitik, dann kann sie sich dafür nicht auf ihre Unabhängigkeit stützen.
Was ist von dem zweiten Vorwurf zu halten?
Hat das Bundesverfassungsgericht den Vorrang des Unionsrechts verletzt?
Durfte es nicht entscheiden, wie es entschieden hat, weil das EU-Recht (= Unionsrecht = Europarecht) dem nationalen Recht vorgeht und weil deshalb - wie die Kritiker meinen - nationales Verfassungsrecht nicht gegen Unionsrecht in Stellung gebracht werden könne?
Richtig ist, dass das Unionsrecht grundsätzlich Anwendungsvorrang vor dem nationalen Recht hat, sogar vor den nationalen Verfassungen.
Aber der Vorrang gilt nicht absolut.
Er hat eine Grenze in dem, was man die "Verfassungsidentität" der Mitgliedstaaten nennt.
Die EU darf keine Rechtsakte erlassen oder Maßnahmen treffen, welche die fundamentalen Verfassungsprinzipien der Mitgliedstaaten verletzen.
Und der Vorrang kann logischerweise nicht gelten, wenn die EU-Organe die ihnen von den Mitgliedstaaten durch die Unionsverträge (Vertrag über die Europäische Union - EUV und Vertrag über die Arbeitsweise der Europäischen Union - AEUV) übertragenen Kompetenzen überschreiten und somit auf einem Gebiet handeln, für das nicht sie, sondern die Mitgliedstaaten zuständig sind.
Handeln sie jenseits ihrer Kompetenzen ("ultra vires"), dann können ihre Maßnahmen keinerlei Rechtswirkungen in den und für die Mitgliedstaaten entfalten.
Diese beiden Einschränkungen des Anwendungsvorrangs des EU-Rechts hat das Bundesverfassungsgericht bereits in seinem Urteil zum Vertrag von Lissabon (2009) hervorgehoben.
Und es hat für sich selbst die Kompetenz in Anspruch genommen, Handlungen von EU-Organen darauf zu überprüfen, ob sie durch die vertraglich zugewiesenen Kompetenzen gedeckt sind und ob sie die deutsche Verfassungsidentität unberührt lassen ("Ultra-vires-Kontrolle" und "Identitätskontrolle").
Nach dem Lissabon-Urteil ist das Bundesverfassungsgericht befugt, "ersichtliche" Kompetenz-überschreitungen von EU-Organen festzustellen, mit der Folge, dass kompetenzüberschreitende EU-Rechtsakte in Deutschland keine Geltung beanspruchen können.
Und das Bundesverfassungsgericht hat im Lissabon-Urteil ausdrücklich betont, dass der Vertrag von Lissabon nur in der vom Bundesverfassungsgericht in diesem Urteil vorgenommenen Interpretation mit dem Grundgesetz vereinbar sei.
Gäbe es die beiden genannten Einschränkungen des Vorrangs des EU-Rechts nicht und hätte das Bundesverfassungsgericht nicht die Kompetenz für die Ultra-vires-Kontrolle und die Identitätskontrolle, dann hätte Deutschland den Vertrag von Lissabon erst gar nicht ratifizieren dürfen.
Dass nationale Verfassungsgerichte das Handeln der EU darauf überprüfen können, ob die EU innerhalb ihrer Kompetenzen handelt oder sie überschreitet, dass sie also eine Ultra-vires-Kontrolle vornehmen dürfen, ist eine Konsequenz daraus, dass die Mitgliedstaaten der EU nur "begrenzte Einzelkompetenzen" übertragen haben und dass sie selbst noch immer die "Herren der Verträge" sind.
Dieser Umstand unterscheidet die EU - jedenfalls aus Sicht des Bundesverfassungsgerichts und wohl auch aus Sicht der Mitgliedstaaten - immer noch von einem Staat, obwohl sie sich nach Funktionen und Kompetenzumfang einem Staat schon sehr angenähert hat.
Aber entgegen der Annahme der Kommissionspräsidentin ist die EU nicht souverän.
Zur Souveränität im völkerrechtlichen Sinne gehört die Kompetenz zur unabgeleiteten - das heißt nicht auf Ermächtigung durch ein anderes Völkerrechtssubjekt beruhenden - Rechtsetzung.
Souverän in diesem Sinne sind die Mitgliedstaaten, nicht die EU.
Indem EU-Organe immer wieder Kompetenzen in Anspruch nehmen, die ihnen nach den Verträgen nicht zustehen, und indem der EuGH dies regelmäßig billigt, maßt sich die EU die Kompetenz zur eigenständigen Kompetenzerweiterung an.
Die EU hat aber nach den Verträgen nicht die Kompetenz, über den Umfang der eigenen Kompetenzen zu bestimmen; sie hat keine Kompetenz-Kompetenz.
Wenn die EU "Souveränität" für sich beansprucht, nimmt sie auch die Kompetenz-Kompetenz für sich in Anspruch.
Sie erklärt sich damit zu einem Staat, der den Mitgliedstaaten übergeordnet ist.
Mit dem Grundgesetz ist dies absolut unvereinbar.
Deutschland hat der EU keine Kompetenz-Kompetenz übertragen und dürfte es auch gar nicht.
Dem steht der unabänderliche Verfassungskern des Grundgesetzes entgegen.
Nur auf der Basis einer Entscheidung des Volkes über eine neue Verfassung wäre die Übertragung der Souveränität auf die EU und die Eingliederung Deutschlands in einen europäischen Bundesstaat möglich.
Allerdings gibt es ein Problem, das nicht so leicht zu lösen ist:
Ob die EU ihre Kompetenzen überschritten hat, wird meist umstritten sein.
Natürlich behaupten die EU-Organe stets, dass sie im Rahmen ihren Kompetenzen handeln.
Als Draghi sagte, die EZB werde alles tun, was nötig ist, den Euro zu retten, fügte er hinzu "within our mandate".
Dabei war ganz klar, dass die "Euro-Rettung", nämlich die Rettung vor dem Bankrott stehender Eurostaaten, nicht zum währungspolitischen Mandat der EZB gehört.
Die Frage lautet also:
Wer ist zuständig, darüber zu entscheiden, ob die EU ihre Kompetenzen überschritten hat?
Die Kritiker des Bundesverfassungsgerichts behaupten, dafür sei allein der EuGH Zuständig.
Richtig ist zwar, dass die Verträge dem EuGH die Zuständigkeit für die Auslegung des Unionsrechts geben, und dazu gehören auch die Kompetenznormen.
Soweit es um die Auslegung derjenigen Vertragsnormen geht, die die Kompetenzen zwischen EU und Mitgliedstaaten abgrenzen, ist aber folgendes zu bedenken:
Wenn die EU außerhalb der Kompetenzen handelt, die ihr von den Mitgliedstaaten in den Verträgen übertragen worden sind, handelt sie außerhalb des Unionsrechts.
Und außerhalb des Unionsrechts hat der EuGH überhaupt keine Zuständigkeit.
Die Frage, ob die EU ihre Kompetenzen überschritten hat, kann also von einer Binnenperspektive und von einer Außenperspektive aus beantwortet werden.
Für die Beantwortung aus der Binnenperspektive ist der EuGH zuständig, für die Beantwortung aus der Außenperspektive die Verfassungsgerichte der Mitgliedstaaten.
Somit gibt es hierfür eine Doppelzuständigkeit.
Das wirft die weitere Frage auf, auf wessen Entscheidung es ankommt, wenn der EuGH und das nationale Verfassungsgericht unterschiedlicher Ansicht sind.
Das ist die Frage nach der Letztentscheidungskompetenz.
Während aus Sicht der EU-Kommission die Letztentscheidungskompetenz nur dem EuGH zustehen kann,
hat das Bundesverfassungsgericht sie im Lissabon-Urteil für sich reklamiert.
Es hat allerdings in den folgenden Jahren versucht, den Konflikt mit dem EuGH zu vermeiden,
hat die "europarechtsfreundliche" Anwendung der Ultra-vires-Kontrolle betont und von einem "Kooperationsverhältnis" der beiden Gerichte gesprochen, und es hat die romantische Vorstellung eines ewigen Gesprächs mit dem EuGH gepflegt, das kein "letztes Wort" kennt.
Das konnte nur solange gut gehen, wie das Bundesverfassungsgericht bereit war, vor dem EuGH zurückzuweichen, also der Sache nach dem EuGH das letzte Wort zu überlassen.
Und das Bundesverfassungsgericht ist sehr weit zurückgewichen.
Im Honeywell-Beschluss (2010) hat es gesagt, aus Gründen der "Europarechtsfreundlichkeit" wolle es dem EuGH nur widersprechen, wenn dieser "objektiv will-kürlich" entschieden habe und sein Urteil "offensichtlich schlechterdings nicht mehr nachvollziehbar" sei.
Damit hatte das Bundesverfassungsgericht seinen Kontrollanspruch fast vollständig zurückgenommen, und man stellte sich die Frage, ob es jemals zur Feststellung eines Ultra-vires-Akts kommen könne.
Im Urteil über das OMT-Programm der EZB - also über den Ankauf von Staatsanleihen der Krisenstaaten zum Zwecke der "Euro-Rettung" - hat das Bundesverfassungsgericht die Verfassungsbeschwerden zurückgewiesen, obwohl es selbst der Ansicht war, die EZB habe ihr Mandat überschritten.
Nur habe der EuGH nicht offensichtlich willkürlich entschieden, als er das EZB-Programm billigte, und deshalb habe das Bundesverfassungsgericht keine Kompetenzüberschreitung feststellen können.
Anders jetzt im PSPP-Urteil.
Dieses ist in der Presse zu Recht als "historisch" gewürdigt worden, weil das Bundesverfassungsgericht zum ersten Mal dem EuGH widersprochen und einen Ultra-vires-Akt der EZB und des EuGH festgestellt hat.
In der Presse ist beanstandet worden, dass das Bundesverfassungsgericht gegenüber dem EuGH so rüde Worte wie "willkürlich" und "nicht mehr nachvollziehbar" gebraucht habe.
Das Gericht hätte sich doch freundlicher ausdrücken und mehr Respekt vor dem EuGH zeigen können.
Aber diese unfreundliche Wortwahl war eine Konsequenz der "europarechtsfreundlich" gemeinten Selbstbeschränkung des Bundesverfassungsgerichts, siehe oben.
In der Sache ist die Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts insoweit richtig und notwendig.
Anders als im nationalen Recht ist im EU-Recht die Verhältnismäßigkeit einer Maßnahme nicht nur Voraussetzung für Grundrechtseingriffe, sondern auch für die Inanspruchnahme von Kompetenzen.
Dies hat der EuGH in bezug auf das PSPP selbst betont, ist dann jedoch auf die vielfältigen negativen Auswirkungen der Staatsanleihenkäufe überhaupt nicht eingegangen.
Und obwohl das Bundesverfassungsgericht mehrmals nachdrücklich darauf hingewiesen hat, dass die EZB nicht demokratisch legitimiert sei und dass deshalb ihr Mandat eng ausgelegt werden müsse, ist der EuGH hierauf überhaupt nicht eingegangen.
Hätte das Bundesverfassungsgericht dem EuGH dies durchgehen lassen, wäre es mit seinem Anspruch auf Ultra-vires-Kontrolle nicht mehr ernst genommen worden. -
Bedauerlich ist, dass das Bundesverfassungsgericht daran festhält, die Ultra-vires-Kontrolle auf ein Minimum zu reduzieren und nur offensichtlich willkürlichen und nicht mehr nachvollziehbaren EuGH-Entscheidungen zu widersprechen.
Im PSPP-Fall führte das dazu, dass, wie schon im OMT-Fall, die wichtigste Rüge der Beschwerdeführer - dass nämlich die Staatsanleihenkäufe gegen das Verbot der monetären Staatsfinanzierung verstießen - zurückgewiesen wurde, obwohl das Bundesverfassungsgericht schwerwiegende Einwände gegen die Ankäufe und gegen das sie billigende EuGH-Urteil hatte; aber die Umgehung des Verbots der monetären Staatsfinanzierung könne nicht festgestellt werden, weil sie nicht "offensichtlich" sei.
Nach dieser Rechtsprechung kann die EU einen nicht offensichtlichen Ultra-vires-Akt an den anderen reihen und so die Zuständigkeiten der Mitgliedstaaten eigenmächtig aushöhlen, ohne dass das Bundesverfassungsgericht einschreitet.
Die Proteste gegen das PSPP-Urteil richten sich also dagegen, dass das Bundesverfassungsgericht es wagt, den kleinen Rest an Kontrollkompetenz, auf den es sich zurückgezogen hat, einmal zur Anwendung zu bringen.
Wie geht es jetzt weiter?
Die harmlose Variante wäre folgende:
Der EZB-Rat beschließt innerhalb der Drei-Monats-Frist eine Kosten-Nutzen-Analyse mit dem Ergebnis, dass der Nutzen der Staatsanleihenkäufe für die Preisstabilität größer sei als die Kollateralschäden.
Dieser Beschluss würde vom Bundesverfassungsgericht akzeptiert, und die EZB könnte mit den Anleihenkäufen fortfahren wie bisher.
Das Urteil hätte also keine unmittelbare Auswirkung auf das Ankaufprogramm.
Die Kommission könnte auf ein Vertragsverletzungsverfahren verzichten, und alles liefe weiter wie bisher.
Das Urteil wäre dennoch nicht völlig "für die Katz", denn immerhin hat das Bundesverfassungsgericht demonstriert, dass es nicht jede Kompetenzanmaßung seitens der EU hinnimmt.
Nun hat aber der SPIEGEL gemeldet, dass die EZB das Urteil des Bundesverfassungsgerichts ignorieren und keine Verhältnismäßigkeitsprüfung vornehmen wolle.
Wenn das stimmt, legt es die EZB auf einen großen Konflikt an.
Nach Ablauf der drei Monate müsste die Bundesbank ihre Mitwirkung an den Staatsanleihenkäufen einstellen.
Das müsste unweigerlich zu einem Vertragsverletzungsverfahren führen.
Deutschland würde wegen des Urteils des Bundesverfassungsgerichts verklagt.
Der EuGH müsste dann in eigener Sache entscheiden - rechtsstaatlich ein Unding.
Das Bundesverfassungsgericht seinerseits könnte eine solche Entscheidung des EuGH auf keinen Fall akzeptieren.
Würde Deutschland verurteilt, durch das Urteil des Bundesverfassungsgerichts die Unionsverträge verletzt zu haben, obwohl das Bundesverfassungsgericht eine offensichtliche Kompetenzüberschreitung der EZB und des EuGH festgestellt hat, liefe das darauf hinaus, dass die EU sich anmaßt, ihre Kompetenzen ohne Zustimmung der Vertragsstaaten zu deren Lasten auszudehnen.
Das liefe auf einen schleichenden Souveränitätsübergang an einen europäischen Superstaat hinaus.
Bundesregierung und Bundestag, dies hat das Bundesverfassungsgericht im PSPP-Urteil noch einmal sehr deutlich gemacht, sind verpflichtet, sich dem entgegenzustellen.
Ein solches Vertragsverletzungsurteil des EuGH wäre ein erneuter Ultra-vires-Akt und daher in Deutschland unbeachtlich.
Bundesregierung und Bundestag dürften dieses Urteil nicht hinnehmen.
Das wäre dann ein wirklich harter Konfliktfall mit einiger Sprengkraft für die EU.
EZB und Kommission sollten sich gut überlegen, ob sie diesen Konflikt wirklich wollen - zumal ja, wie gesagt, der Anlass von geringfügiger Bedeutung ist.